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BLUTUNG IST NICHT GLEICH BLUTUNG

Wann muss die Hebamme den ärztlichen Dienst hinzuziehen?

Der Beruf der Hebamme umfasst umfangreiche Kompetenzen, Verantwortlichkeiten und eigenständige Aufgabenbereiche: Das beginnt mit der selbstständigen und umfassenden Beratung, Betreuung und Beobachtung von Frauen während der Schwangerschaft, unter der Geburt, während des Wochenbetts und während der Stillzeit, führt über die selbstständige Leitung von physiologischen (natürlichen) Geburten bis hin zur Untersuchung, Pflege und Überwachung von Neugeborenen und Säuglingen (s. § 1 Hebammengesetz). Eine Geburt darf die Hebamme vollständig eigenständig leiten, solange der Geburtsvorgang physiologisch abläuft. Treten jedoch Komplikationen oder Pathologien auf, muss sie den ärztlichen Dienst hinzuziehen. 

Die Frage, ab wann eine Geburt solche Regelwidrigkeiten aufweist, dass eine ärztliche Betreuung zu veranlassen ist, ist von der Hebamme zu beantworten. Obwohl es hierzu verschiedene fachliche Empfehlungen und auch Urteile gibt, ist die Klärung komplex und vom Einzelfall abhängig. Trifft die Hebamme in dieser Situation eine falsche Entscheidung, weil sie den ärztlichen Dienst nicht oder zu spät involviert, kann das einen Behandlungsfehler darstellen und eine Haftung zur Folge haben. Genau diese Konstellation ist deshalb immer wieder Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen – wie auch bei der nachfolgend näher dargestellten Entscheidung des Oberlandesgerichtes (OLG) Rostock (Urteil vom 05.11.2021, Az. 5 U 119/13).

Die in dem Urteil zu bewertende Geburtsleitung hat sich lediglich über 31 Minuten erstreckt. Mit dem Verdacht auf einen Blasensprung stellte sich die werdende Mutter in der 40. Schwangerschaftswoche um 2:55 Uhr im Krankenhaus vor. Zwei Minuten später legte die im Krankenhaus angestellte Hebamme ein CTG an. Bei leichten unregelmäßigen Wehen und fortbestehenden Herztonabfällen informierte sie um 3:15 Uhr die Gynäkologin, die um 3:18 im Kreißsaal erschien. Bei der nun vorgenommenen vaginalen Untersuchung zeigten sich ein geschlossener Muttermund und Blutungen. Nach einer zudem durchgeführten Ultraschalluntersuchung löste die Ärztin den Notsectio-Alarm aus. Das Kind wurde um 3:34 Uhr mit einer Sauerstoffunterversorgung entbunden.

Der ganze Streit der Klageparteien drehte sich nun darum, ob die Mutter bereits mit Blutungen im Krankenhaus erschienen war und, wenn ja, welche Stärke die Blutungen hatten. Außerdem ging es darum, ob ein solches Geschehen die Hebamme dazu hätte veranlassen müssen, die Ärztin eher hinzuzuholen.

Das OLG war die zweite Instanz und ließ sich viel Zeit: Acht Jahre dauerte es, bis ein Urteil gesprochen wurde. Dies war aber dem Umstand geschuldet, dass das Gericht eine sehr gründliche Klärung vornahm und die Rechte der Beteiligten auf ein ordnungsgemäßes Verfahren zu wahren versuchte. So hörte es den bereits in erster Instanz eingesetzten gynäkologischen Gutachter erneut an und holte von ihm auch ein ergänzendes schriftliches Gutachten ein. Ferner ließ der Senat ein Gutachten von einer Hebamme erstellen, zu dem es ebenfalls eine schriftliche Ergänzung und eine mündliche Anhörung gab. Zu guter Letzt wurde noch ein pädiatrisches Gutachten beauftragt, wiederum mit schriftlicher Ergänzung und mündlicher Anhörung. Diese fachlichen Bewertungen und fünf mündliche Verhandlungen waren Grundlage der gerichtlichen Entscheidung, das Krankenhaus und die Hebamme zu einem Ersatz des materiellen Schadens und zu einem Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 Euro zu verurteilen.

Die behandelnde Hebamme hatte ausgesagt, dass bei der Aufnahme der Schwangeren nur vom Abgang von Flüssigkeit, nicht aber von Blut berichtet worden sei. Die Eltern schilderten hingegen, dass die Blutungen bei der werdenden Mutter bereits Zuhause eingesetzt hatten. Das Gericht sah das damit als erwiesen an. Dies wiederum erforderte eine Klärung, wie stark die Blutungen waren und welche Konsequenzen daraus hätten folgen müssen.

Dabei nahm das Gericht ausdrücklich Bezug auf Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und des Bundes Deutscher Hebammen mit dem Titel „Empfehlungen zur Zusammenarbeit von Arzt und Hebamme in der Geburtshilfe“. Darin heißt es: Blutungen unter der Geburt erfordern die Hinzuziehung einer in der Geburtshilfe erfahrenen Ärztin beziehungsweise eines erfahrenen Arztes.

Diese auf den ersten Blick sehr klare, aber auch sehr pauschale Empfehlung wurde im Prozess jedoch vom Gutachter insoweit relativiert, als dass es bei jeder Geburt zu Blutungen komme und etwa eine reine Zeichnungsblutung die Pflicht zur Hinzuziehung noch nicht auslösen müsse. Auch der Vermerk in der Patientenakte, dass die Blutung stärker als eine Regelblutung gewesen sei, wurde wegen der Subjektivität als nicht hinreichend aussagekräftig angesehen. So verblieb letztlich der Vorwurf gegenüber der Hebamme, dass sie die von der Mutter geäußerte Blutung und die von ihr verwendete Vorlage nicht kontrolliert hatte. Anderenfalls wäre die Gynäkologin zehn Minuten früher zu rufen gewesen und die Sectio wäre entsprechend früher erfolgt.

Neben dem nun festgestellten Pflichtverstoß war darüber hinaus die Frage zu klären, ob die Schädigung des Kindes (motorische Koordinationsstörungen, Störungen der Feinmotorik, epileptische Anfälle, Lernbehinderung, GdB von 70, fehlende Orientierung, Stolpergefahr) auf den um zehn Minuten verzögerten Kaiserschnitt zurückzuführen ist. Der Sachverständige hielt dies durchaus für möglich. Eine ganz verlässliche Aussage traf er dazu aber nicht. Deshalb konnte das Gericht die Kausalität nur mittels einer Beweislastumkehr bejahen, die auf dem Vorwurf der unterlassenen Befunderhebung beruhte. Dieser resultierte aus dem Umstand, dass sich bei der (tatsächlich ja versäumten) Vorlage-Kontrolle ein so deutlicher Blutungsbefund ergeben hätte, dass eine ausbleibende Reaktion darauf als grob fehlerhaft anzusehen wäre.

Das Urteil des OLG Rostock verdeutlicht, dass bei der Frage der Hinzuziehung des ärztlichen Dienstes durch die Hebamme einerseits bereits sehr kurze Zeiträume von enormer Bedeutung sein können. Andererseits ist die Entscheidung, wann ärztliches Personal gerufen werden muss, häufig weit weniger eindeutig zu treffen als es zunächst den Anschein hat. Wir empfehlen deshalb, diese Thematik möglichst durch hausinterne Standards zu konkretisieren, sie zum Inhalt von Notfalltrainings zu machen und eine Kommunikationsbasis zwischen den Berufsgruppen zu schaffen, die eine Benachrichtigung des ärztlichen Dienstes fördert, auch wenn sie sich im Nachhinein als unnötig erweisen sollte.
 

Johannes Jaklin
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